Dienstag, 12. Juni 2007

Dieser Blog ist tot. Ich blogge weiter auf dem «Agile Trail».

Ultra am Vatertag: mein Westerwaldlauf


Wenn man einen Ultramarathon von 1oo km Länge in Biel laufen will, dann sollte man sich darauf vorbereiten. Soweit sind sich, glaube ich, fast alle einig. Aber das war's dann auch schon mit der Einigkeit: Es gibt Weisheiten ohne Ende im Netz zu finden, wie man sich auf einen Ultra bei Nacht in der Schweiz vorzubereiten hätte. Sehr viele und sehr lange Läufe bishin zu einigen wenigen nicht ganz so langen, im Wettkampftempo rumwetzen oder fast schon rückwärts gehen, mit intensiveren Läufen oder ohne, nur noch Nachts oder ab und an mal abends, hügelig-bergiges Gelände oder egal, eher nüchtern oder vollgefuttert. Dehnen, Lauf-ABC, Krafttraining, Koordinationsübungen, alternative Ausgleichs-Sportarten, Massagen, Sauna, Dampfbad, Höhentraining, Stairclimber, Laufbänder, Ernährungspläne bishin zu Epo, Eigenblut und Testosteron - fast nichts, was einem nicht geraten wird. Das ist verwirrend.

Zum Beispiel der lange Lauf. Wie lang soll der denn sein? Welches Pensum reicht aus, um zu finishen? Ist einer in der Woche zu wenig oder sind drei zu viel? In welcher Intensität soll ich dabei laufen? So wie ein Langer beim Marathon? Oder eher langsamer? Vielleicht sogar progressiv? Och nö, ich will doch nur laufen... ;-(

Irgendwann, nachdem ich gefühlt die trillionste Website weggeklickt habe, die mir erklären möchte, wie geil man sich doch nach der Injektion einer Substanz fühlen müsse, für deren Aussprache man schon das große Latinum abgeschlossen haben müsste, also irgendwann danach bildete sich bei mir so ein Bauchgefühl heraus. Ergebnis: Ein 50-km-Ultra wäre gut in der Vorbereitung. Mein acht Wochen Trainingsplan, streng nach Superkompensationsprinzip dreimal ansteigend, hatte damit in der Mitte seinen Höhepunkt gefunden. Die beiden anderen Spitzen belegte ich mit zwei Marathons und fertig waren die "richtig" langen Läufe.

Nun lebe ich ja nicht in einer perfekten Läuferwelt und muss mich mit allerhand Nebensächlichkeiten rumplagen, Freundin und Arbeit und so. Und da läßt es sich nicht vermeiden, dass auch die besten Trainingspläne mal mit Belanglosem kollidieren, dem Urlaub etwa. Geplant war ein Wohnmobil-Trip von Karlsruhe nach Italien, vielleicht sogar bis nach Rom. Glücklicherweise lebe ich mit einer toleranten Freundin zusammen, der ich mit nur ganz wenig Auf-Knien-Rutschen die imensen Vorteile klarmachen konnte, die sich bei einem "kleinen" Umweg über den Westerwald ergeben würden - rein trainingstechnische Vorteile, versteht sich. Für alle geografischen Legasteniker: der Westerwald liegt in etwa bei Köln, 230 km nördlich von Karlsruhe, während Italien so in etwa südlich von Karlsruhe dümpelt. Und so meldete ich mich für den 9. Internationalen 50 km Erlebnislauf im Westerwald.

Jorina und ich fahren also per Wohnmobil am Mittwoch nachmittag nach Rengsdorf in den Westerwald. So ein Wohnmobil ist eine feine Sache: Du packst rein, was Du brauchst, ohne Rücksicht auf Platzmangel, und dann ist das Ding trotzdem nur halb voll. Wenn Du ankommst, wo auch immer, dann schlüpfst Du nur fünf Schritte vom Fahrersitz ins Doppelbett. Und am nächsten Morgen machst Du Dich lauffertig und wenn Du aus der Tür gehst bist Du schon am Start. Toll :-)

Das Hauptquartier des Westerwaldlaufs ist beim Freibad in Rengsdorf und auf dessen Parkplatz stellen wir den Camper ab. Nach einer kurzen, aber erholsamen Nacht mache ich mich morgens fertig. Gar nicht so einfach zu entscheiden, was man anziehen soll bei diesem Wetter: Die Temperatur war morgens um 7 h bei etwa 6° C und es nieselte mit einzelnen kleinen Schauern. Split-Shorts und Laibchen war ich die Wochen vorher bei den ungewohnt hohen Temperaturen gewohnt, und das war jetzt einfach zu kalt. Also noch eine Regenjacke drüber. Gute Entscheidung, denn es sollte nicht wärmer als 13° C an diesem Tag werden.

Der Rennleiter erklärt kurz vor 8 h die Strecke, einmal zum Rhein und zurück, "so wie schon vor fünf Jahren, dass kennen ja bestimmt einige". Vielstimmiges Zustimmungsgemurmel. Aha, dieser Lauf hat Fans. Kleine Pappschilder am Streckenrand mit Pfeil und Veranstalungskennziffer drauf sollen die Richtung weisen. Viel Spaß wünscht er noch und dann fällt der imaginäre Startschuss und etwa 50 Läufer machen sich auf die Reise.

Der Westerwaldlauf war ursprünglich mal ein reiner Wandertag, konnte aber irgendwann nicht mehr genügend Wanderer begeistern und bietete zusätzlich auch einen Ultramarathon an. Die Wanderer starten schon ab 5 Uhr morgens, so dass wir fast auf der ganzen Strecke an solchen Frühaufstehern vorbeikamen. Erwähnenswert ist noch, dass es keine Zeitmessung vom Veranstalter gibt, es ist ein reiner Spaß- und Erlebnislauf ohne offiziellen Wettkampfcharakter. Man kann sich denn auch nur in etwa später eine Platzierung und Einordnung ins Läuferfeld bzgl. der Zeit dadurch zurechtargumentieren, dass man das Internet auf Zeitennennungen anderer Läufer durchforstet.

Nach nur zweieinhalb Kilometern, ich habe mein Lauftempo gerade gefunden, passiert es dann auch schon: Ich folge einem Pfeil, der auf eine Anhöhe deutet. Vor mir habe ich nach dem Start sechs andere Läufer gezählt, wovon der erste abging, als ob das hier ein 10er wäre. Kurz vor der Anhöhe hört der Weg plötzlich auf und geht in eine Wiese über - hinter der Anhöhe meine ich ein Waldstück auszumachen. Boah, denke ich mir, die vor mir sind aber schon ganz schön schnell, kann ich ja gar nicht mehr sehen. Hinter mir ruft's auf einmal niederländisch - und so lerne ich Wim kennen. Verstanden habe ich nicht, was er ruft, aber die Geste ist eindeutig: ich bin in die falsche Richtung gelaufen und mit mir der rufende Wim und noch ein paar Läufer dahinter. Also wieder runter von der Wiese und hinter Wim her, etwas bedröppelt, weil das Läuferfeld natürlich überholt hat und ich mich da jetzt wieder durchwuseln muss.

Das kann natürlich immer passieren, egal ob 5 km oder Ultramarathon: Irgendwelche lustigen Schildverdreher kommen daher, wenn die Rennleitung in den Tagen vor dem Lauf die Strecke absteckt, und das ist ja auch sowas von zum Totlachen, wenn man da den Rennverlauf ändert und die Teilnehmer auf ungesicherte Kuhwiesen umleitet. Ich kann mich ja gar nicht mehr einkriegen vor guter Laune, als ich nur knapp einem zugewachsenen Abwassergraben entkommen bin.

Glück im Umweg: Wim kommt aus den Niederlanden und läuft in etwa meine Geschwindigkeit. Ja, okay, er läuft schneller und ich hänge mich ran. Shaking Hands und ab da laufen wir zusammen und quasseln über den ganzen Lauf die Kilometer weg. Wim ist erfahrener Ultramarathoni, hat schon den Comrades-Lauf in Südafrika mitgemacht oder auch fünf Mal den K78 beim Swiss-Alpin-Marathon in Davos (und das als Flachländer!). Vier Tage zuvor hatte er bereits einen anderen 50er mitgemacht und mit diesem hier zusammen ist das eine wesentliche Vorbereitung auf einen schottischen 100-Meilen-Lauf. Wir plaudern zusammen über Trainingsmethoden, über Urlaub, über Familie, Beruf und so ziemlich alles zum Thema Laufen.

Der Westerwald ist hügelig. Gut, dass hatte ich mir im Vorfeld gedacht. Immerhin hab ich ja auch schonmal den Siebengebirgsmarathon mitgemacht. Aber die Steigungen im Siebengebirge sind langgezogen, während sie im Westerwald teilweise sehr steil sind. Wim meinte irgendwann, dass hier kein Meter ohne Steigung sei, und außer einem Teilstück von 500 m stimme ich ihm da vollkommen zu. Mein Pulsmesser erzählt mir später etwas von knapp 1500 Höhenmeter, was etwa die Hälfte von den Höhenmetern des Siebengebirgsmarathons wäre. Und Wim fliegt die Steigungen rauf wie eine Gemse. Oftmals komme ich da nicht mit, hole ihn aber immer wieder Zähne aufeinander beißend bergab ein. Auch sonst ist es ein sehr harmonisches Miteinander: mal ist Wim 20 Meter weiter vorne, mal bin ich es, aber meistens laufen wir direkt vor-, hinter- oder nebeneinander.

In Abständen von einigen Kilometern gibt es immer wieder kleine Hütten, Bretterverschläge und Zelte, in denen die Verpflegung angeboten wird. Wir werden jeweils persönlich bedient ("Was darf's denn sein für Euch?"), da wir relativ weit vorne mitlaufen und es sowieso eine eher überschaubare Anzahl Teilnehmer gibt. An fünf Verpflegungsstellen muss ich meinen Laufzettel vorzeigen, der dann abgestempelt wird. Dummerweise habe ich kein Plastiktütchen beim Anmelden eingesteckt, dass den Laufzettel vor der Witterung schützen sollte, und so hilft mir Wim ein weiteres Mal, als er mir den abgerissenen und durchweichten Teil mit den Stempeln drauf hinter mir aufhebt. Hätte ich ohne ihn bestimmt nicht gemerkt.

Die Strecke war übrigens ziemlich cross, will heißen: entweder rauf oder runter die Wiesen und Feldwege, gespickt mit Pfützen und heruntergefallenen Ästen, dazu sehr schlammige Passagen weil Dauer(niesel)regen. Lustig war's an einer Stelle, wo wir Mountenbikern (auch radelnd darf man die 50-km-Strecke bewältigen) bergauf im Morast davongelaufen sind. Und teilweise wurde es auch ein wenig gefährlich, etwa bei einem Trampelpfad an einem Steilhang entlang. Linker Hand waren Erde und Wurzeln am Hang, rechter Hand ging's steil einige Meter tief runter ins Gebüsch. Plötzlich kommt eine scharfe Linkskurve wie aus dem Nichts und nach einer scharfen Bremsung suche ich vor mir automatisch nach abgestürzten Läufern. Oder das eine Teilstück, bei dem man einen schmalen Pfad durchs Unterholz runtergelaufen ist und auf einmal eine gut befahrene Straße den Wald beendet - den schnellen Kontextwechsel des Ausweichens von zuvor kratzigen Brombeersträuchern und jetzt hupenden Autos muss man auch erstmal verkraften.

Aber das soll jetzt nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Landschaft wirklich fantastisch ist: dichte Wälder, nebelbehangene Wiesen, bishin zu schön anzusehenden Weinanbaugebieten. Das Highlight ist aber etwa in der Mitte des Laufes zu bestaunen, und da sind Wim und ich auch fast angehalten. Wir laufen etwa 24 km immer nur im Wald und ab und an mal durch ein Dorf, eine Lichtung oder eine Wiese, um dann auf einmal einen Panoramablick auf den Rhein samt Umland zu bekommen. Wunderschön war das, trotz Regen und Nebel.

Gegen Ende wird es immer heftiger mit den Anstiegen, bzw. natürlich werden nicht die Anstiege heftiger, sondern ich habe denen jetzt weniger Kraft entgegenzusetzen. Bei km 30 etwa ist die steilste Passage, bei der ich meine, dass sogar der wackere Wim ein wenig gejapst hat - und ich hab' mir ja ganz viel Mühe gegeben, aber trotzdem auf den letzten 20 Metern oben einfach nicht mehr die Füße voreinander bekommen, so dass ich den Rest gehend bewältigt habe. Eigentlich sogar kletternd, denn die Steigung erlaubte einen problemlosen Einsatz der Hände zur Fortbewegung. So ab km 45 ist mir das dann noch öfter passiert - und Wim hat zum Schluß jedesmal auf mich gewartet! Aber so schlimm hatte ich diese Kraftlosigkeit auch noch nicht erlebt: Ich konnte einfach mein Bein nicht mehr so hoch heben, wie es die Steigung erfordert hätte. Richtig unheimlich war das, aber eine lehrreiche Erfahrung, habe ich doch noch viele weitere Bergläufe in mein Trainingsprogramm für Biel aufgenommen.

Die letzten zwei Kilometer sind nochmal richtig knackig: Hinter jeder neuen Kurve vermute ich das Ziel, meine alle 50 Meter aufs neue einen feinen Chlorgeruch des Freibades wahrzunehmen oder verfluche jede noch so kleine Steigung. Auf einmal können Wim und ich das Freibad durch die Bäume etwa 10 Meter den Hügel runter ausmachen - und müssen nochmal eine große Schleife dran vorbei laufen, sonst wären es sicherlich keine 50 km geworden. Wim lacht, ich fluche, und so laufen wir noch die Schleife, die natürlich nochmal den Hügel raufführt, bevor wir endlich am Ziel ankommen.

Jetzt würde ich gerne schreiben, was für ein furioser Empfang uns im Ziel bereitet wird, wie die Massen jubeln und die Menge tobt - doch das wäre dann ein anderer Lauf. Knapp hinter dem Banner mit der Aufschrift Ziel steht ein kleiner Tisch mit Plastikbechern und Getränken drauf. Wir schenken uns selbst etwas zu Trinken ein. Eine Frau fragt uns nach unserer Zeit und wir lesen ihr diese von unseren Uhren vor. Dann dauert es eine ganze Weile - bis ich schließlich auch im Kopf ankomme! Ich hab's geschafft, 50 km, mit Wim zusammen!

Wim und ich fallen uns in die Arme und beglückwünschen uns zur Zielankunft. Dann humpeln wir zu den Duschen: Wim ins nahegelegene Hotel, ich ins Freibad zu den sanitären Anlagen, nicht ohne uns für nachher noch zu verabreden. Warmwasser sucht man dort zwar vergebens, aber auch so geht die dicke Dreckkruste ab - nach dreimal Einseifen :-)

Eine Urkunde gibt's, wenn man den Laufzettel abgibt ("Ach herrje, der ist ja ganz durchnäßt! Na, ich glaub' Ihnen das mal mit den Stempeln *zwinker*") und seine Zeit nennt: 4:43 h. Die Urkunde ist im unschlagbar günstigen Preis von EUR 9 (ja, neun, einstellig!) noch mit drin, die Medaille und das T-Shirt kosten extra. Aber auch da sind die Preise völlig okay, das Funktionsshirt etwa für nur EUR 6. So wenig habe ich noch nirgendwo sonst pro Kilometer bezahlt.

Jorina war derweil Fotographieren und wir treffen uns im Wohnmobil wieder. Kurz Foto- und Streckenbeschreibungen ausgetauscht und wir decken uns mit Würstchen und Erbseneintopf ein, alles von den Veranstaltern organisiert. Danach fühl ich mich auch nicht mehr ganz so leer und kann schon wieder einigermaßen auf ebenem Boden normal gehen. Wim treffen wir danach noch bei Kaffee und Kuchen und laden ihn zu uns ins Wohnmobil ein, wo wir den ganzen Nachmittag quatschend verbringen und dann abends weiterfahren Richtung Italien.

Wim, an dieser Stelle nochmal vielen, vielen Dank an Dich! Ich habe sehr viel von Dir lernen können und es hat mir ganz viel Spaß gemacht, diese Strecke mit Dir zusammen zu laufen. Abgesehen mal davon hätte ich mich dreimal im Wald verlaufen und hätte keinen gestempelten Laufzettel mehr, wenn Du mir nicht geholfen hättest :-) Danke für diesen schönen Tag!

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