Mittwoch, 27. Juni 2007

Dieser Blog ist tot. Ich blogge weiter auf dem «Agile Trail».

Nacht des Hungerasts in Biel 2007

Ich sitze auf der Bank einer Bierzeltgarnitur irgendwo in der Schweiz und bin am Ende. Der Ort hier heißt Kirchberg, aber das ist mir gerade herzlich egal. Mir ist schwindelig und ich fühle mich recht bescheiden. Ist dies das unrühmliche Ende meines ersten Hunderters?

Es ist 2:30 h in der Nacht von Freitag auf Samstag, 15. auf 16. Juni 2007 und ich bin in den letzten fünfeinhalb Stunden etwa die ersten 56 Kilometer des Bieler 100-km-Ultramarathons gelaufen, soviel wie ich noch nie zuvor gelaufen bin, und ich habe noch weitere 44 vor mir. Bei Kilometer 50 habe ich schon beim Pinkeln gemerkt, dass ich mich irgendwo festhalten muss, wenn ich stehenbleibe, damit ich nicht umfalle. In Kirchberg beim Checkpoint dann drehte sich auf einmal alles und irgendjemand machte mir das Licht aus. Ich mußte mich einfach hinsetzen, wenn ich nicht umkippen wollte.

Bis hierhin war aber alles super gelaufen! Ich hatte mich im Training sehr gut vorbereiten können auf diesen Lauf. Jorina und ich hatten uns am Mittwoch aufgemacht per Wohnmobil. Wir haben einen guten Parkplatz keine 500 Meter von Start und Ziel erwischen können. Die Startunterlagen konnte ich ohne Probleme abholen in der Eissporthalle, dem Zentrum des Laufes, in dem sich die Rennleitung einquartiert hat. Nach einem kleinen Lockerungslauf am Mittwoch abend hab' ich zwar einen Quaddelausschlag im Gesicht und auf Brust und Schultern bekommen (Stress?), der zwar fürchterlich gejuckt, aber relativ schnell wieder verschwunden war und auch nicht mehr wiederkommen sollte, wie ich befürchtet hatte.

Die Nacht vor dem Wettkampf haben wir gut im Alkoven des Wohnmobils geschlafen. Mein Schlafplan (jap, so einen habe ich mir zurechtgelegt) sah vor, dass ich von Mittwoch abend relativ spät ins Bett gehe und Donnerstag morgen recht früh aufstehe, so dass ich ausreichend müde sein würde, um mich am Donnerstag nachmittag nochmal für ein paar Stunden aufs Ohr packen zu können. Vorschlafen kann man nämlich nicht, und so kann man höchstens versuchen, ein wenig die innere Uhr auszutricksen. Erfahrungen aus dem Schichtdienst sind hier übrigens recht hilfreich.

Die übrige Zeit vor dem Wettkampf habe ich versucht, möglichst nicht an ihn zu denken, und so haben wir uns die Zeit mit Quatschen, Bücherlesen und Videogucken vertrieben. Nach Rausgehen war uns beiden nicht so, denn es regnete und gewitterte in einer Tour. Gegen Donnerstag Abend habe ich mir dann meine Ausrüstung zurecht- und angelegt. Zum x-ten Male habe ich alles kontrolliert, vom korrekten Sitz des Chips für die Zeitmessung, der ich mit dem Schnürsenkel an meinen Laufschuh gebunden habe, bis hin zum Funktionscheck der Stirnlampe, die ich über meiner Schirmmütze trage. Alles war okay und Jorina und ich machten uns auf zum Start.

Etwa 2800 andere Läufer sind in Biel diese Jahr am Start gewesen, davon ganze 2200 für den Hunderter, der damit weltweit zum größten 100-km-Ultramarathon wird. Ich stellte mich irgendwo in der Mitte des Startbereichs an den Rand, damit ich mich noch ausgiebig von Jorina würde verabschieden konnen. Ein Zeitziel hatte ich nicht; 10 Stunden war mein Richtwert, also 10 Kilometer pro Stunde, 6 Minuten pro Kilometer. Aber es wäre mir egal gewesen, wenn ich länger unterwegs sein würde, denn den ersten Hunderter wollte ich nur finishen. Das erzählte ich auch einem weißhaarigen Mitläufer, der davon überzeugt war, man würde mir meine erste Teilnahme ansehen, und er hätte zwar schon fünf von sechs Bieler Hundertern gefinisht, aber er wäre bislang auf dem 10 Kilometer langen Zieleinlauf immer bei Kilometer 99 auf die Knie gesunken und hätte Gott gedankt, dass es gleich vorbei sein würde - sehr motivierend!

Die Läufermeute zählte zusammen den Countdown runter und ich verabschiedete mich von Jorina. Konnte gar nicht dran denken, dass sie gleich ins Bett gehen würde, während ich in die Nacht laufe. Irgendwie wäre ich jetzt auch gerne ins Bett gegangen, denn ein wenig mulmig war mir schon. Ist doch irgendwie eine ziemlich lange Strecke, nicht wahr?!

Normalerweise stelle ich mich relativ weit vorne bei Wettkämpfen ins Starterfeld, denn unter die ersten 15 % komme ich meistens und es ist nervig, langsamere Läufer vor einem überholen zu müssen, und außerdem kostet es einfach Zeit. Aber in Biel sind die Relationen anders gestrickt, als bei einem normalen Marathon. Die meisten Marathons tracken Brutto- und Nettozeit, also die Zeit ab Startschuss (Brutto) und die Zeit, ab der der individuelle Läufer über die Startlinie läuft (Netto). Dazwischen können auf großen Marathons wie Hamburg oder Berlin schon 10 Minuten liegen, in Biel sind's vielleicht zwei bis fünf Minuten. Allerdings ist diese Zeitspanne in Biel sogar kleiner als die Fehlertoleranz bei der Vermessung der Strecke, also zu vernachlässigen. Daher gibt's in Biel auch keine Unterscheidung zwischen Brutto und Netto - wer hier Zeit verliert, der tut das bestimmt nicht am Start.

Mit einem lauten Knall ging's ab auf die Strecke und ich trottete los, quer durch das vom Gelb der Straßenlaternen erleuchtete Biel. Jede Menge Zuschauer waren hier noch am Streckenrand zu sehen, die besonders vor Kneipen eine Menge Partystimmung verbreiteten. Aufgefallen sind mir die vielen Kinder am Streckenrand, die mit ausgestreckten Händen abgeklatscht werden wollen; ich mag Kinder an der Strecke nie abklatschen, weil da immer so ein Rotzlöffel dabei ist, der im letzten Moment wegzieht und mir hämisch hinterherlacht! Die Strecke wies hier noch jeden Kilometer aus und ich konnte prima meinen Kilometerschnitt kontrollieren. Und dann ging's mit etwas mehr als fünf Minuten pro Kilometer raus aus Biel.

Die ersten 50 Kilometer sind relativ langweilig. Anders, als ich dachte, ist der Bieler Hunderter zum größten Teil ein Straßenlauf, also nix mit Waldwegen. Der schlimmste Abschnitt war der auf einer Landstraße, die einfach kein Ende nehmen wollte und sehr monoton war. Dazu kommt dann noch, dass es Nachts nicht viel zu sehen gibt, man sich also von der Landschaft nicht ablenken lassen kann. Es war bereits um 23 Uhr dunkel, und zwar so richtig, weil Neumond - ohne Stirnlampe wäre ich völlig aufgeschmissen gewesen. Ich kann nicht verstehen, wie einige da komplett ohne Lampe laufen können.

Die Läuferdichte dünnt recht schnell aus: nach 20 Kilometern sind vielleicht noch zwei Dutzend Läufer in Sichtweite, ab 30 Kilometer vielleicht noch zwei Hand voll, und ab 50 Kilometer waren es dann nur noch fünf, die in unmittelbarer Nähe liefen. Die Mitläufer sind es aber, die die Monotonie des Nachtlaufes etwas brechen können: Jeder Vorbeiziehende oder Überholte wird beäugt, und auch die Coaches, also die radfahrenden Begleiter der Läufer, bieten eine willkommene Abwechslung zur Dunkelheit. Pro Läufer darf ein Begleiter auf dem Rad mitfahren und kann seinen Schützling verpflegen und ihm zur Seite stehen.

Kleine und große Geschäfte verrichtende Sportler traf ich an jedem Straßenrand, besonders vor den Verpflegungsstellen, da hier die Gelegenheit günstig erschien, Platz für Nahrung zu schaffen. Dabei gingen die meisten relativ ungeniert zu Werke, also nix mit Hintem-Busch-verstecken und so. Und wo ich gerade von Abfällen schreibe: nach den Verpflegungsstellen vereinten sich diese optischen Eindrücke mit den akustischen, denn Luft im Körper ist nicht gut. Merke: Furzen, Rülpsen, Kacken und Pinkeln, auch das gehört zu einem Hunderter.

Und wie ich also selbst gerade etwas Wasser ließ, direkt hinter dem Noch-50-km-bis-ins-Ziel-Schild, da wurde mir schwummerig und ich mußte mich an einem Zaunpfahl abstützen. Dabei hatte ich mir allerdings noch nichts Schlimmes geahnt, immerhin ist ja das Laufen der Status Quo und das Stehen eine Ausnahme, vergleichbar mit einem Seemann, der vom Schiff ab und zu an Land geht. Der meint ja auch, dass sich der feste Boden bewegt, während er auf dem Schiff keine Bewegung wahrnimmt, und so dachte ich halt, dass es völlig normal sein könnte, wenn einem nach langem Laufen im Stehen schwindelig wird. Aber alles Schöndenken half mir nicht darüber hinweg, dass mir immer komischer zumute wurde, und ich dieses blöde Gefühl nicht einordnen, keiner Gefahrenquelle zuordnen konnte.

Der Bieler Ultra ist in vier Teilstrecken unterteilt: von Biel nach Oberramsern (38,5 km), von da weiter nach Kirchberg (56,1 km) und schließlich bis nach Bibern (76,6 km) sind Ortschaften, die das jeweilige Ende einer Teilstrecke markieren. Man hat die Möglichkeit, sich frische Klamotten von Biel aus zu den Checkpoints transportieren zu lassen. Oder man kann auch ganz aussteigen und dann mit dem Bus im Halbstundentakt zurück nach Biel fahren, und man wird dann sogar noch auf die Rangliste gesetzt. Ich stehe also kurz vorm Abgrund und mit diesem netten Service könnte ich noch einen großen Schritt nach vorne tun.

Vor also genau jenem Bus für Aussteiger sitze ich jetzt und gehe den bisherigen Rennverlauf vor meinem geistigen Auge Abschnitt für Abschnitt durch, was ich wohl falsch gemacht haben könnte, dass ich mich jetzt so beschissen fühle. Mein linker Fuß hat relativ kurz nach dem Start angefangen zu ziepen, so bei Kilometer 20 etwa, doch er ist gerade ruhig und kann auch eigentlich nichts damit zu tun haben, dass ich mich so kraftlos fühle. Muss irgendwie mit der Verpflegung zusammen hängen, denke ich mir.

Die Verpflegung in Biel ist große Klasse. Etwa alle 5 Kilometer ist ein Verpflegungsstand aufgebaut, der nichts zu wünschen übrig läßt: Wasser, isotonische und hipotinische Getränke, Saft, Sportlertee, so eine Art Gemüsebrühe, Cola (ab Kilometer 35), dazu Bananen, Brot, Energieriegel, Kekse, alles in mundgerechte Stücke geschnitten. Bislang habe ich an jedem Stand zwei Becher Isotonisches und mindestens ein Stück, meistens zwei Stücke Banane gegessen. Also kann ich doch eigentlich nicht unterzuckert sein - oder doch?

Und als wäre das nicht schon schlimm genug: Ich mußte mich setzen! Ich habe Dierk noch vom letzten Jahr im Ohr: "...und egal was Du tust, setz' Dich bloß niemals hin! Das bereust Du! Bleib immer in Bewegung!" Tja, der Mann sprach aus Erfahrung, denn wenn man erstmal sitzt, dann verhärtet die Muskulatur in Minuten. Das merke ich auch gerade und verfluche diesen ganzen blöden Scheißlauf so lauthals, dass sich meine Banksitznachbarn ein wenig belästigt fühlen.

Hey, das hat gutgetan, das Fluchen, denn der Kopf wird kurz frei: Kann es sein, dass ich einen Hungerast habe?

Als Hungerast bezeichnet man einen plötzlichen Leistungsabfall insbesondere bei Sportlern, der auf das Aufbrauchen der Kohlenhydratreserven des Körpers zurückzuführen ist (Hypoglykämie). (Wikipedia)
Herrje, da scheinen die Bananen nicht genug gewesen zu sein. Was macht man bei einem Hungerast? Genau, Kohlenhydrate schaufeln! Und ab geht's an die Cola- und Energieriegelbar. Ich schnappe mir zwei Becher Cola und drei Stücke Energieriegel. Es gibt mehrere Riegelarten zur Auswahl, gekennzeichnet mit dem prozentualen Gehalt an Kohlenhydraten und Proteinen. Ich nehme mir von denen mit 96prozentigem Anteil an Kohlenhydraten. Immer ein Stück vom Riegel knabbernd kaue ich die braunen Stücke gut durch, damit das Zeug nicht beim Weiterlaufen im Bauch aneckt und weh tut, und spüle sie mit der schwarzen Brause runter. Nach fünf Minuten merke ich, dass der Schwindel nachläßt, nach zehn Minuten kommt die Kraft wieder. Bis ins Ziel werden noch Dutzende Stücke Energieriegel mit Litern von Cola zusätzlich zu Bananen und Isogetränken gemischt ihren Weg in meinen Verdauungstrackt finden. Es ist erstaunlich, was man so alles während eines Hunderters verdrücken kann.

Gut, Gefahr erkannt und mit Zucker gebannt, aber jetzt muss ich erstmal wieder in die Gänge kommen. Boah, diese Schmerzen! Ich denke, so muss sich ein Hunderjähriger mit Gicht und Rheuma fühlen, wenn er morgens an einem grauen Regentag im Winter aus dem Bett muss - wenn die Heizung nachts ausgefallen ist und das Fenster die Nacht über offen stand! Es dauert mindestens drei Kilometer, bis ich wieder einigermaßen rund laufe. Bis dahin tut jeder Schritt weh, ich kann keine Bodenunebenheit abfedern und stolpere zweimal auf den Grünstreifen neben der Straße, weil ich nicht rechtzeitig die Beine voreinander bekomme. Aber schließlich läuft es sich dann doch irgendwie, allerdings langsamer als vorher.

Meine Anfangszeit von etwas mehr als fünf Minuten auf einen Kilometer habe ich bis zum Tiefpunkt hier in Kirchberg durchhalten können. Den 50. Kilometer beendete ich in genau der gleichen Zeit wie meinen 50-km-Ultra im Westerwald vor vier Wochen: 4:43 h. Und nein, die erste Hunderterhälfte bin ich nicht zu schnell angegangen, denn Biel ist wesentlich einfacher zu laufen als der Westerwald, da viel flacher. Als ich die zweite Etappe bei Kilometer 56 beende, habe ich etwa 20 Minuten Zeit an Vorsprung erlaufen, gemessen an meiner angepeilten Zielzeit von 10 Stunden. Das war jedoch vor meiner Zwangspause. Das Schild auf Kilometer 60 und die damit verbundene Zwischenzeit korrigiert meine Zeit: ich habe rund 49 Minuten für die letzten fünf Kilometer gebraucht und damit den kompletten Vorsprung aufgebraucht. Das ist eine herbe Enttäuschung, und bevor ich Gelegenheit dazu finde, mich zu grämen, laufen wir bereits auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad.

Ab ca. Kilometer 58 fängt beim Bieler Hunderter der so genannte Ho-Chi-Minh-Pfad an. Das ist ein schmaler Pfad auf einer Art Deich, welcher am Fluss Emme entlang verläuft. Eigentlich sind es zwei Pfade, getrennt von einer Grasnarbe. Aufgrund der vielen Regenfälle in den vergangenen Tagen ist der Boden aufgeweicht und rutschig. Es gibt hier viele Schlaglöcher und teilweise bricht der Damm zu beiden Seiten ein wenig weg - bestimmt nicht schön, wenn man da runterfällt. Genau erkennen kann ich nichts vom Drumherum, schirmen doch die Bäume links und rechts des Pfades jegliches Restlicht von oben ab. Besonders prekär ist die Situation auch aufgrund der Wurzeln der Bäume, die sich über den Boden winden und kaum zu erkennen sind im Licht meiner Stirnlampe. In regelmäßigem Abstand schlagen uns Läufern dann auch noch tiefhängende Äste und Zweige ins Gesicht; der reinste Dschungel hier.

Zack, da passiert es auch schon: Mein Schuh bleibt in einer Wurzel hängen und ich haue der Länge nach hin. Kein Wunder, laufe ich doch immer noch ein wenig steif vor mich hin aufgrund der Zwangssitzpause und kann ergo nicht so geschickt Wurzeln, Schlaglöchern und Ästen ausweichen. Glück im Unglück, denn ich lande zwischen den Wurzeln - wäre ich direkt auf einer gelandet, so hätte ich mir leicht was brechen können. Aber auch so fluche ich wie ein Rohrspatz und verwünsche einmal mehr diese Strecke. Sofort sind andere Läufer neben mir und beugen sich über mich. Ob ich mir weh getan hätte? Ich verbeisse mir einen klugscheißerischen Kommentar, meinen sie es doch bestimmt nur gut mit mir, und sage ihnen, dass alles okay ist.

Ich rappel mich wieder auf - und bin erstaunt, wie hellwach ich auf einmal bin. Das durch den Sturz verursachte Adrenalin gibt mir einen Kick und ich laufe sehr viel aufmerksamer als vorher. Bin ich vorher den Läufern auf der besseren rechten Spur hinterhergehumpelt, so überhole ich jetzt viel mehr auf der linken Seite. Es geht wieder aufwärts, ich spüre das genau.

Der Pfad wird irgendwann zu einem Schotterweg, der wirklich super zu laufen ist und entlang einer kleinen Steinmauer führt. Hier bemerke ich, dass eine Läuferin zu mir aufgeschlossen hat und nicht mehr von meiner Seite weicht. Zuerst fällt mir das nicht weiter auf, aber irgendwann merke ich, dass sie jede Tempoveränderung meinerseits mitmacht. Ich grüße sie und sie grüßt zurück, ihre Lampe hätte den Geist bei dem Regen aufgegeben und sie könne sehr gut mit meinem Licht die Strecke erkennen. Ab hier fällt mir den Rest der Nacht über auf, dass sich relativ viele kleine Grüppchen bilden, denen jemand mit einer starken Stirnlampe voranläuft und dem viele ohne Licht folgen. Erinnert mich an die Szene in "Das Leben des Brian", wo das Volk dem Typen mit der Lampe hinterherläuft. Aber das hat auch etwas Gutes, denn ich laufe hier jetzt meine schnellsten fünf Kilometer in weniger als 24 Minuten, getrieben von einer nachtblinden Läuferin. Ha, Konkurrenz beflügelt das Geschäft!

Die fahrradfahrenden Begleiter mancher Läufer dürfen nicht überall ihre Schützlinge begleiten, sondern überall dort Umwege fahren, wo es eng oder potentiell gefährlich werden könnte, wenn Läufer und Fahrradfahrer auf zu engem Raum zusammen agieren, etwa am Start, auf Brücken oder eben auch auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad. Und genau auf diesem Pfad wird den Läufern die längste Trennung von ihren Coaches abverlangt: ganze 10 km lang. Es ist eines der wunderbarsten Bilder, die mir von diesem Lauf in Erinnerung bleiben, nämlich als wir von dem Pfad aus durch eine Art Torbogen kommen und es auf einmal ganz hell wird von all den Fahrradlampen. Dort stehen plötzlich wie aus dem Nichts viele Fahrradfahrer samt Bike links und rechts am Straßenrand Spalier, und das hat schon etwas sehr Sureales an sich.

Es gibt Läufe, die sind hart, weil ich mich selbst nicht gut fühle. Das sind meist Trainingsläufe von mehreren Stunden Länge, zu denen ich mich manchmal einfach nicht aufraffen kann. Und es gibt Läufe, die sind hart, weil sie selbst anspruchsvoll sind, unabhängig von meiner Motivation. Zu letzerem gehört dieser Bieler Nachtlauf. Läufe beider Härtearten versuche ich zu bezwingen, indem ich sie teile und die Teile dann bezwinge: Divide et impera! Den Hunderter habe ich zuerst in einen Marathon und den Rest geteilt. Nach dem Marathon habe ich die 50-km-Marke angepeilt. Sowohl Marathon als auch 50er-Ultra kenne ich und ich weiss auch, dass ich diese gut laufen kann. Nach dem 50er habe ich in meinem Kopf das Bild vom Doppelmarathon geformt, der bei Kilometer 84,39 endet. Ab hier sind es nur noch etwa 15 Kilometer zum Ziel, wobei ab Kilometer 90 schon der Zieleinlauf beginnt, mich von diesem also ab Ende des Doppelmarathons nur noch fünf Kilometer trennen. Und dann ist's nur noch ein schlapper 10er, den ich laufen muss.

Bis zur Doppelmarathonmarke habe ich nochmal kurz Hoffnung aufgrund eines falsch platzierten Kilometerschildes bekommen, doch noch die 10-Stunden-Zeitgrenze unterschreiten zu können, aber bald wird mir immer klarer, dass ich bei etwa 10:45 h landen werde. Es wird langsam hell, Sonnenaufgang ist um 5:30 h, und es wird wärmer. Mehr ist zur Strecke bis Kilometer 85 eigentlich auch nicht zu erzählen: Man läuft sich halt so da durch, ist im Flow, läßt laufen.

Zuerst habe ich mich übers Hellerwerden gefreut, aber bald schon merke ich, dass ich damit auch aufwache, alles intensiver erfahre, und damit auch aus einem inneren Dämmerzustand erwache, der mich so vor mich hinlaufen ließ. Das ist einerseits gut, weil ich den Lauf eben stärker erleben kann, andererseits macht es die Fünfer-Abschnitte subjektiv länger. Naja, ist ja nicht mehr sooo weit.

Hinterher wird mir jemand sagen, dass da ganz schön heftige Steigungen gegen Ende des Laufs waren, aber ich werde das bestreiten und sagen, dass die gar nicht so heftig waren. Tatsächlich gehe ich keinen einzigen Meter nach oben, weil ich die Steigung nicht mehr laufen könnte. Einzig ein Gefälle bei Kilometer 90 kann ich nicht mehr runterlaufen, weil die Oberschenkel die Stöße nicht mehr so recht abfangen wollen. A pro pos Gehen: Bis zum Ende werde ich jeden Verpflegungsstand als Bremse benutzt haben und meine Verpflegung gehenderweise zu mir genommen haben. Das Gehen hilft ungemein, Energie zu tanken und die Muskulatur zu entlasten, wenn auch nur kurz.

Ab Kilometer 85 wird's dann psychisch hart, denn ich hab' so langsam keine Lust mehr. Es ist zwar faszinierend zu wissen, zweimal hintereinander einen Marathon gelaufen zu sein, einen Doppelmarathon. Aber es sind trotzdem immer noch 15 Kilometer bis ins Ziel. Ich bin jetzt achtdreiviertel Stunden unterwegs und jetzt könnte das Ziel auch mal endlich kommen, oder etwa nicht? Ich laufe einen Schnitt von etwa 5'30 Minuten, mache aber Gehpausen nicht nur bei den Verpflegungsständen, sondern auch bei den Kilometerschildern 85, 90 und 95, was dann den Kilometerschnitt auf etwas über 6 Minuten pro Kilometer drückt. Egal, ich will nur noch ankommen, mich hinlegen, die Augen zumachen, schlafen. Nicht, dass ich müde wäre in dem Sinne, wie man eben spät abends müde wird, weil man schlafen möchte, sondern ich bin einfach erschöpft, ausgepowert, matschig.

Zieleinlauf beginnt ab Kilometer 90? So ein Quatsch, alles Lüge! Die Strecke ist hier genauso wie die letzten fünf Kilometer und wird auch noch die nächsten fünf Kilometer so sein. Wieder eine Erwartung, die sich nicht erfüllt hat. Ich könnte dem Typen vom Start den Hals umdrehen ob seiner Worte, aber da der irgendwo ein paar Stunden hinter mir laufen wird, will ich jetzt nicht auf ihn warten.

Die Menschen an der Strecke sind bemerkenswert: Je länger die Nacht, desto besoffener sind die Kneipengänger, die mir und den anderen Läufern auf der Straße vor ihrer Stammbierbude in den zahlreichen kleinen Dörfern lautstark grölend zuprosten, durch die wir immer wieder laufen. Wieder so ein in mein Hirn eingebrannter Schnappschuss: Wir laufen über eine gut 50 Meter lange Brücke, die überdacht ist und von innen herrlich warm ausgeleuchtet ist. Dicht an dicht gedrängt stehen die Leute in der Brücke. Es ist still, man hört kaum Unterhaltung, höchstens Gemurmel, und natürlich das Trappeln der Laufschuhe auf dem Brückenholz. Die Leute schauen sehr beeindruckt zu uns und man hört immer wieder ein "Super!" und "Weiter so!" erfürchtig gehaucht. Das tut gut! So einen ähnlichen Snapshot nahm ich auch irgendwo an einem Fluss auf. Es ist schon hell und eine schöne Frau steht alleine am Streckenrand und sagt zu mir mit Schweizer Dialekt "Gratuliere! Du bist gleich da!" - und so langsam komme ich dahinter, dass ich wirklich gleich 100 km gelaufen sein werde!

Der vorgezogene Zieleinlauf fängt eigentlich bei den letzten fünf Kilometern an, und die Strecke hört genauso auf, wie sie angefangen hat: mit Infotafeln zu jedem einzelnen Kilometer, nicht nur jedem fünften, wie es auf dem Rest der Strecke war. Auf diesem jetzt gerade steht drauf: "96 Kilometer, noch 4 bis zum Ziel". Ich habe seit gefühlten Ewigkeiten keine Mitläufer mehr gesehen und auch keine Zuschauer mehr. Ich laufe auf einer Sandstraße lang - 97 Kilometer - neben einer Bahnstrecke - 98 Kilometer - über die Bahnstrecke und ich kann unser Wohnmobil sehen in der Ferne auf seinem Parkplatz an der Straße ganz in der Nähe vom Ziel - 99 Kilometer - und ich laufe jetzt bestimmt vor Euphorie unter fünf Minuten pro Kilometer. Aber das ist jetzt auch egal: Würde jetzt irgendetwas reißen, ich würde auf dem Zahnfleisch ins Ziel kriechen wollen! Der Zieleinlauf, also der echte, fängt etwa 400 Meter vor dem Ziel an und ist wieder voll mit Menschen, die jeden einzelnen Läufer bejubeln (siehe Foto).

Die letzten vier Kilometer habe ich Zeit gehabt daran zu denken, dass ich es tatsächlich schaffen werde, die kompletten 100000 Meter. Und als ich durchs Ziel laufe, bin ich überwältigt von diesem Gefühl. Es ist einfach unbeschreiblich und es fällt irgendwie eine sehr große Last von mir ab: ein Bruchteil an Glückseeligkeit, dann ist es auch schon wieder vorbei. Ich sehe nur noch glückliche Läufer um mich herum, alle stolz mit ihrer Medaille um den Hals baumelnd, und ich bin Teil von diesem Ganzen.

Am 15.06.2007, morgens um etwa 8:35 Uhr, stoppte meine Zeit bei 10:34'58'9 Stunden beim 49. Bieler 100-km-Ultramarathon. Ich kam als 15. der M30-Alterklasse und als 241. in der Herrenwertung an. 63 Finisher gab's alleine in meiner Altersklasse, davon hat der schnellste nur 8:34'05,8 Stunden vom Start ins Ziel benötigt. 1118 Männer und 167 Frauen finishten insgesamt den Hunderter. Damit sahen etwa 59 % der Starter das Ziel nach 1oo km als Finisher. Dieses schloss nach 21 Stunden um 19 Uhr abends, und der letzte Läufer erreichte es noch in genau 20:57 Stunden, die letzte Läuferin in 20:24'46,6 Stunden. Der Sieger des 100er-Ultras von Biel, Hunold Pius, brauchte lediglich unglaubliche 7:26'09,2 Stunden - das ist ein Kilometerschnitt von nur 4'27,69! Der Zweitplazierte folgte ihm in weniger als 9 Sekunden - ein Herzschlagfinale für solch einen Ultra! Die älteste Läuferin ist Jahrgang 1934 und ist mit dem Namen Oma Marita Schulz im Ranking eingetragen. Sie finishte in 19:26'27,3 Stunden - mit 73 Jahren! Der älteste Laufer war der berühmte Werner Sonntag, und er finishte mit 81 Jahren in einer Zeit von 19:44'58,9 Stunden. Damit war er aber nicht der schnellste M80er, denn das war mit über vier Stunden Vorsprung vor Sonntag der 80jährige Paul Brassel mit 15:35'05,6 - unglaubliche Leistungen!

Jorina hat's verpennt :-) Aber klar, ich konnte auch nicht wirklich sagen, wann ich ankommen würde, und ob überhaupt. Ich humpel zum Wohnmobil - fast alles unterhalb der Gürtellinie ist verhärtet und mag nicht mehr, muss es ja auch nicht - und jubel sie aus den Federn. Alles muss sofort raus und ich erzähle überschwenglich, bin kein Stück müde. Irgendwann frühstücke ich reichlich. Vorher oder nachher, ich weiss es nicht mehr, gehe ich duschen bei der Eissporthalle, danach zur ausgiebigen Massage, während Jorina meinen Zeitchip wegbringt (man konnte nicht seinen eigenen benutzen, sondern mußte den vom Veranstalter nehmen) und mein wohlverdientes Finisher-Shirt abholt. Etwas lockerer, weil gute und lange Massage genossen, sitze ich wieder im Wohnmobil - und bin von jetzt auf gleich schlagartig KO. Das darf ich sein, denke ich noch so bei mir, bevor ich tief und fest den verdienten Schlaf derer schlafe, die da Hundert gelaufen sind.

Ich habe keinerlei Gebrechen abbekommen, außer natürlich der Steifheit der Gliedmaßen, aber das kennt man ja schon vom Marathon. Aber ansonsten nix: keine Schmerzen in den Gelenken, keine Abschürfungen, nicht eine einzige Blase oder Druckstelle! Meine Füße sind etwas sehr groß, passen die ersten Stunden nach dem Lauf nur noch knapp in meine Schuhe, aber das gibt sich recht schnell wieder.

Der Plan sah zwar vor, dass wir den Samstag noch in Biel bleiben und ausspannen und dann Sonntag mit dem Camper nach Hause fahren, aber da uns das Wasser im Camper schon am Samstag ausgeht und ich mich nach dem Schlafen schon wieder fahrtüchtig fühle, lenke ich unser Fahrzeug am Samstag abend wieder nach Hause. Am Sonntag kann ich schon wieder locker laufen, was ich dann zwecks Regeneration auch 20 Minuten tue. Mir geht's gut!

Hundert! So langsam kann ich's fassen...

Update 27.06.2007 23:28: Momentan gibt es zwei Videos auf YouTube, die ein wenig den 49. Bieler 100er 2007 zeigen. Das eine zeigt den Start, das andere den 1. Franzosen im Ziel.

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